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Albanische Flagge: "Der Adler in seinem Blut", wie Einheimische sagen.

5 Sinne: Hören
"Der Raub des königlichen Schlafs"
Lesung mit Ismail Kadare 2

Wir erheben nicht den Anspruch zu beurteilen, ob es ein letztes Geheimnis tatsächlich gibt, geschweige denn, es zu ergründen. Deshalb nur die Frage, ob der Autor glaubt, dass die Albaner eine Art von „albanischer“ Identität bewahren werden, da der Nachwuchs doch all überall unterwegs ist in Europa und alles Mögliche lernt. (Ein fieser griechischer Insider-Witz etwa lautet: Es gibt drei Millionen Albaner und fünf davon leben in Griechenland.) Aber vielleicht ist das alles Schnee von gestern – wer weiß? Schon die Bezeichnung „Albanien“ für das Land hören Einheimische nicht allzu gern. Auf Leke-Münzen (noch keine Euro!) heißt das Land „Republika e Shqiperise“, grammatikalisch interessanterweise konstruiert wie: eine Frau und schön (nicht wie im Deutschen: schöne Frau). Kein Wunder also, wenn der Autor etwas müde blickt, wenn man ihn auf „albanische“ Identität anspricht. Oder ist das schon wieder überinterpretiert? Aber keine Ursache: Wir wollen ja nur verstehen. (Ein edler Trieb, wie Kadare findet.)
Also gut: Lassen wir die Fantasie (ganz altmodisch mit "ph" geschrieben) doch mal schweifen: Womöglich ist das Land kein Teil von Europa und schon gar nicht dessen letztes Geheimnis, sondern ein eigener Kontinent. Ein eigener Kontinent geronnen aus Zeit zum Beispiel, die man sich genommen hat, während ganz Resteuropa sich willig hat säkularisieren lassen. S o l l t e Europa jemals den Mut aufbringen, seine Geschichte von diesem Ende her aufzurollen, wird es ganz schön ins Schwitzen kommen. In Albanien liegt vielleicht nicht nur sein letztes Geheimnis, sondern womöglich sogar der Schlüssel zu seiner Erlösung. Nirgendwo sonst nämlich, so scheint es, ist das kollektive Gedächtnis so lebendig geblieben. Aber man kann davon ausgehen, dass die nicht sonderlich glücksbegabte Alte Welt auch diese Chance wird vorüber ziehen lassen, sehr zu unserem Bedauern. In der Folge würde nicht der Epiker Ismail Kadare, sondern der spanische Romancier Javier Marías den Nobelpreis gewinnen.
Phantasie bei Seite! In Tirana putzen sich die Werktätigen morgens ihre verstaubten Schuhe am Wasserbecken vor dem recht teuren Hotel International, bevor sie zur Arbeit gehen. Sie sind hoch motiviert, ganz anders als wir und unser Nachwuchs, der nicht mal Sprachen gern lernt. Ein Serbe, der uns an der kroatischen Riviera Makarska einen Soldaten-Friedhof abseits der Touristen-Ressorts zeigt und im Gegensatz zu einer kroatischen Gesprächspartnerin frei ist von Reminiszenzen, schätzt: „Die Albaner kommen auch langsam hoch.“ Und die jungen Albaner lieben die alten von Herzen und machen sich lustig über ihren „Aberglauben“, sogar schon im rückständigeren Norden des Landes. Ob man sich eine "albanische" Identität wird bewahren können? "Vielleicht. Wenn die Tradition stark genug ist."
Das Eigene und das Fremde reibt sich in Bezug auf Albanien ganz ungeniert. Welche tatsächliche Radikalität darin liegt und wie viel Projektion, ist schwer abzuschätzen. Viel Kraft ist jedenfalls vorhanden. „Es hat eine literarische Strömung gegeben, die Symbolismus heißt“, sagt Kadare. „Aber die war nicht stark genug, um den Rest zu erschlagen.“

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Ismail Kadare mit (albanischem?) Adler. Copyright Foto (Ausschnitt): Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg.

"Der Raub des königlichen Schlafs"
Lesung mit Ismail Kadare 1

"Der Raub des königlichen Schlafs"
Lesung mit Ismail Kadare 2