Logo
 
_ _ _ _ _ n _

Marktplatz Amberg
Die Wilden Achtziger
Ein Krimi-Fragment

In den 1980er Jahren, als versprengte Hippies ihre Schmuck- und Klamottenstände auch in der kreisfreien Stadt aufzubauen begannen, war B. einer der Ersten gewesen, die sich an kleinen Drogengeschäften beteiligten. Er war kein großer Dealer, eher einer, der bei jedem Handel ein bisschen Stoff für sich selbst abzweigte. Er liebte die Frauen. Es gab kaum eine, die ihn nicht interessierte. Am Hippie-Verkaufsstand saß er gern in der ersten Reihe, wenn mittags die Mädchen von der Klosterschule über den Marktplatz zogen. „Alm-Abtrieb“ nannte er das Schauspiel, versetzt mit ätzendem Spott, der immer originell, aber nie bösartig war, auch wenn manche das glaubten. Was war schon los in jener Zeit? Nicht viel, außer vielleicht der VHS-Kurs „Dramatisches Gestalten“ oder die katholische Jugendgruppe, die in einem der mittelalterlichen Tore an der Stadtmauer tagte. Soziales Engagement, Drogengefahr oder das Sektenproblem waren dort Thema. Man konnte Referate halten oder zum „Fähnleinführer“ aufsteigen. Daneben gab es Bettenlager in einer alten Mühle am Dorf, Lagerfeuerromantik, Geländespiele.
B. und sein jüngerer Bruder, der damals noch J. hieß, zogen in Jeans, T-Shirt und ärmellosen Jacken aus grob gewebten Stoffen durch die Gegend. An den Ständen der Hippies bauschten sich Batikkleider aus dünner Baumwolle, aufgehängt an Drahtkleiderbügeln, im Wind. Aufgeblähte Röcke schienen die Mädchen überreden zu wollen, sie einfach so, ohne Slip, anzuziehen. Neugierig sahen sie zu, wie die Hippies ihre Stände aufbauten, zuerst die leichten Stangen verschraubten, die sie dann seitlich und an der Rückwand mit dicken Planen überzogen. B. half für ein Taschengeld beim Aufbau und gebärdete sich dabei als der eigentliche Chef. Oder vielmehr wurde er trotz seiner begrenzten Körpergröße als solcher empfunden. Wiewohl flink in seinen Bewegungen, wirkte er immer gelassen, dabei aber konzentriert, am ehesten einem jungen Bären ähnlich, der noch gar nichts Behäbiges an sich hat, eher etwas Verspieltes, dazu jede Menge Instinkt. Es war eine Aura von Eifer und echter Hilfsbereitschaft um ihn, die im Gegensatz zum selbstgefällig frömmelnden Kleinstadtkatholizismus nichts Aufgesetztes hatte.
Wenn alles fertig aufgebaut war, besahen sich die Gymnasiastinnen Ohr- und Fingerringe aus leichtem Silber oder Trompetenblech, in Schlangenform oder mit Totenkopf-Emblem, mit in einander gerankten Blättern und Blumen oder Halskettchen mit Vogel- und Herzmotiv. Irgendwo dazwischen thronte die unvermeidliche Wasserpfeife, stapelten sich Räucherstäbchen und kleine Parfümflaschen mit Sandelholz- oder Patschuliduft, die man an Lederbändern um den Hals trug. An der Stange oben war ein Ring mit Batiktüchern in gedeckten Farben befestigt, die auch Klosterschülerinnen guten Gewissens erstanden, um sie dann zum hoch geschlossenen Sweatshirt zu tragen. Rückenfreie Oberteile waren in der ortsansässigen Klosterschule noch Mitte der 1970er Jahre verboten.
Die beiden Brüder kannten auch andere Frauen: Frühreife, selbstbewusste Mädchen aus gutem Haus, die sich ohne viel Federlesens auf sie einließen. Treffpunkt war das Kriegerdenkmal unter den Rathaus-Arkaden, damals noch ohne Absperrgitter, auf dessen niedrigen Treppenstufen man sich zwischen Zigarettenkippen und leeren Bierdosen traf. Wer sich dort niedersetzte, egal, ob männlich oder weiblich, war ein Outlaw. Zum ersten Mal dort auf den Treppen zu lümmeln, war quasi der Sündenfall. Damit einher gingen spöttische Blicke auf die „Spießer“, die nur zum Einkaufen in die frisch verkehrsberuhigte Fußgängerzone kamen. Die sozialromantische Szene, „Gammler“ genannt, sonnte sich im Ruhm dessen, der dem Konsum und seinen biederen Begleiterscheinungen entkommen war. Natürlich gab es die Eingefleischten, solche, die wirklich etwas riskiert hatten und dabei bös abgestürzt waren. Manche von ihnen kannten sich noch Jahrzehnte später nicht aus, waren hängen geblieben in den Endlosschleifen einer narzisstischen oder psychotischen Existenz. Es gab aber auch die Cleveren, die den Mechanismus durchschauten und bereits zu diesem frühen Zeitpunkt ihren kleinen Profit daraus schlugen, oder die eigentlich Braven, die gern dazu gehört hätten, im Grunde aber nur belächelt oder ausgenutzt wurden. Trotzdem waren sie, die Babyboomer und versuchsweisen Punks, die letzte wirklich poetische Generation.
Für einen Star hielt sich im Grund jeder von ihnen: Luke Skywalker mit den zottigen langen Haaren, dem verschleierten Blick, der bereits so viel Marihuana geraucht hatte, dass ihn ohne verträumtes Lächeln auf dem Gesicht schon keiner mehr kannte („Der hat’s auch nicht mehr ganz geschafft“, war der mitleidige Kommentar eines Zeitgenossen); das späte Hippie-Pärchen und seine Clique, von dem man wusste, dass es regelmäßig zum FKK-Baden in die nahen Sandgruben fuhr; der coole Einzelgänger, der mit englischen Sprachbrocken, vornehmlich aus der Fäkalsprache, um sich warf, der manchmal über Wochen hinweg nicht zu sehen war, dann wieder jeden Tag, so dass man ihm irgendwann alles zuzutrauen begann; der Stoiker, der praktisch immer da war, aber wortkarg und undurchschaubar, eigentlich ein Phantom, das nur ganz wenige Zeichen setzte, in die man umso mehr Bedeutung legte; der nette Kerl von nebenan, der in der Lage war, mit all den schrägen Vögeln zum Schuhe kaufen nach Nürnberg zu fahren – per Anhalter versteht sich und – beim „Stoppen“ – in kürzester Zeit.
In diesem Mikrokosmos kamen Frauen nur in Randlagen vor: Als Accessoire, Muse oder blutjunge Mutter. Ihr vielleicht einziger Vorteil: Sie konnten die Grenzen ohne weiteres passieren, sich von denen abwenden, die ihnen langweilig wurden, hin zu anderen, von denen sie zwar nicht ganz ernst genommen, aber doch irgendwie süß gefunden wurden, und die Halt suchten bei ihrer mädchenhaften Unschuld. Im Zweifelsfall konnte man den Rückweg antreten oder auch nicht. Im Zweifelsfall war das kein Schaden. Er wurde abgebucht auf einem dicken Konto namens Lebenserfahrung oder – wenn schließlich auch die Rechnungen der Anderen, der Braven, nicht ganz aufgingen – nach langem Hin und Her abgeschrieben. Im günstigsten Fall erwuchs daraus eine besondere Art von Lebenstüchtigkeit.
Copyright: Sigrid Merkl, Steinpfalz Publikationen